Dem Sterben zum Trotz


Dem Sterben zum Trotz

90% der Kos­ten, die ein Mensch über sein Leben hin­weg bei den Kran­ken­kas­sen ver­ur­sacht, ent­ste­hen im letz­ten Jahr sei­nes Lebens. Ein Geschäft, das sich jähr­lich auf Mil­li­ar­den von Euro beläuft. Die­sen Markt haben inzwi­schen auch Groß­in­ves­to­ren für sich ent­deckt und ste­cken Unmen­gen an Kapi­tal in den Auf­bau und die Über­nahme von Kli­ni­ken und Pfle­ge­ein­rich­tun­gen. An der Spitze der Kli­ni­ken sit­zen aus­ge­bil­dete Gesund­heits­öko­no­men, die die Kli­ni­ken und Ein­rich­tun­gen ren­ta­bel hal­ten sol­len. Statt Behut­sam­keit und Für­sorge für die Men­schen ste­hen auf­wän­dige und ren­ta­ble The­ra­pien an obers­ter Stelle. Die Story deckt auf, wie ein Sys­tem ent­stan­den ist, das den Men­schen aus dem Blick zu ver­lie­ren scheint und ver­hee­ren­den Druck und größte Not bei Pati­en­ten, Pfle­ge­kräf­ten und Ärz­ten auslöst.

Wel­che Fol­gen die Öko­no­mi­sie­rung des Gesund­heits­sys­tems her­vor­ge­bracht hat, macht sich beson­ders bei den Men­schen bemerk­bar, die am ältes­ten und schwächs­ten sind. Unnö­tige Ope­ra­tio­nen, exzes­sive Blut­rei­ni­gun­gen und quä­lende The­ra­pien ohne Ziel sind bun­des­weit keine Ein­zel­fälle mehr – denn das Gesund­heits­sys­tem bezahlt die Kran­ken­häu­ser nach Auf­wand. Ärzte wer­den durch die Kran­ken­haus­ver­wal­tung unter Druck gesetzt mehr zu ope­rie­ren und Chef­ärzte mit Bonus­ver­trä­gen gelockt. Des­halb ster­ben in Deutsch­land immer mehr Men­schen an Appa­ra­ten –  mitt­ler­weile wird etwa jeder dritte Ster­bende noch beatmet. Die Anzahl der Pati­en­ten, die noch ope­riert wur­den stie­gen zwi­schen 2007 und 2015 um 21%, Dia­lyse um 30% und dau­er­hafte Luft­röh­ren­schnitte um 16%. Eine Viel­zahl die­ser Behand­lun­gen am Lebens­ende geschieht sogar gegen, oder zumin­dest ohne den aus­drück­li­chen Wil­len der Men­schen, skan­diert der Pal­lia­tiv­arzt und Kri­ti­ker Mathias Thöns im Gespräch mit der Autorin, Alex­an­dra Hardorf.

Har­dorf ist die Autorin des Films, doch sie ist auch Mut­ter und Toch­ter. Nahe der hol­län­di­schen Grenze, bei ihrer eige­nen Fami­lie, setzt sich die Autorin zuerst mit den Her­aus­for­de­run­gen für ein wür­de­vol­les Able­ben aus­ein­an­der. Ihr Schwie­ger­va­ter Hans (76) hat eine Krebs­er­kran­kung hin­ter sich und ein sehr schwa­ches Herz. Bei einer Rou­ti­ne­un­ter­su­chung wird dann ein Aneu­rysma im Bauch ent­deckt. Die Dia­gnose: nicht ope­ra­bel, ein Todes­ur­teil. Nach Gesprä­chen mit dem behan­deln­den Arzt fällt die Fami­lie eine Ent­schei­dung. Wenn das Gefäß platzt, sol­len keine lebens­er­hal­ten­den Mafl­nah­men ein­ge­lei­tet wer­den, denn ein wür­de­vol­les Leben wäre dann aus Hans’ Sicht nicht mehr mög­lich. Die deutsch‐holländische Fami­lie beschließt, wenn über­haupt, einen hol­län­di­schen Not­dienst im Not­fall zu rufen. Denn in Deutsch­land erfolgt auto­ma­tisch, anders als in Hol­land, die Inten­siv­me­di­zin bei der Ein­lie­fe­rung ins Kran­ken­haus. Schläu­che, Kabel, Moni­tore – das möchte Hans, wie viele andere Men­schen in Deutsch­land, nicht.

Von hier aus star­tet Alex­an­dra Har­dorf ihre inves­ti­ga­tive Recher­che. In ein­fühl­sa­men Inter­views mit trau­ma­ti­sier­ten Men­schen und aus­drucks­star­ken Bil­dern nähert sie sich indi­vi­du­el­len Schick­sa­len genauso wie den kom­ple­xen Struk­tu­ren des deut­schen Gesund­heits­sys­tems. Die Story im Ers­ten „Dem Ster­ben zum Trotz“ fragt: Wann ist es Zeit, eine The­ra­pie abzu­bre­chen? Wie kann ich mei­nen letz­ten Wil­len durch­set­zen? Und wer pro­fi­tiert davon, wenn trotz­dem immer wei­ter the­ra­piert wird?

So wie beim Vater von Heinz Sening in Mün­chen. Die­ser wurde, ent­ge­gen dem eige­nen Wunsch, über Jahre in einem leid­vol­len Zustand künst­lich am Leben erhal­ten. Dem Vater wur­den in die­ser Zeit alle Zähne gezo­gen, er war gepei­nigt von Schmer­zen und Ersti­ckungs­an­fäl­len. Heinz Sening ver­langte Schmer­zens­geld für die sinn­lose Qual sei­nes Vaters und zog vor Gericht. Der Bun­des­ge­richts­hof hat ihm den Scha­dens­er­satz abge­spro­chen – „Das Urteil über den Wert eines Lebens steht kei­nem Drit­ten zu“, sagt die Senats­vor­sit­zende Vera von Pentz bei der Urteils­ver­kün­dung in Karls­ruhe. Des­halb ver­biete es sich grund­sätz­lich, ein Wei­ter­le­ben als Scha­den anzu­se­hen – auch wenn es lei­dens­be­haf­tet sei. Doch Heinz Sening und der Men­schen­rechts­an­walt Wolf­gang Putz sehen das anders und kla­gen nun vor dem Bundeverfassungsgericht.

Die Doku­men­ta­tion trifft Ärzte, Aus­stei­ger und Infor­man­ten, Betrof­fene, Kri­ti­ker und Befür­wor­ter unse­res Gesund­heits­sys­tems, um die Struk­tu­ren offen­zu­le­gen, die dazu füh­ren kön­nen, dass ein­zelne Men­schen und ganze Fami­lien lei­den. Auf ihrer Reise trifft die Autorin aber auch Men­schen, die ihr hel­fen sich gut abzu­si­chern. So zeigt der Film, wel­che Doku­mente im Ernst­fall wich­tig sind, wor­auf man im Kran­ken­haus ach­ten sollte und was jeder Ein­zelne ein­for­dern darf.