From Fame to Shame
Zu Beginn der 90er entfesselt das Popduo Milli Vanilli weltweit Begeisterungsstürme. Auch wenn es vergessen und verdrängt ist: Bis heute sind Milli Vanilli die einzige deutsche Band, der es gelang, gleich drei Nummer‐eins‐Titel in den amerikanischen Billboard‐Charts zu erzielen und vom Michael‐Jackson‐Manager Sandy Gallin unter Vertrag genommen zu werden. Mit ihrem androgynen Äußeren, ihrer eingängigen musikalischen Mischung aus Pop, Soul und Hip‐Hop sind sie damals absolut neuartig — und bringen eine ganze Generation an Mädchen zum kollektiven Schwärmen.
Krönung der Karriere von Milli Vanilli ist die Grammy‐Verleihung in Los Angeles. Dass ein in tiefster deutscher Provinz produziertes Musikprojekt musikalische — und modische — Trends in den USA setzt, ist etwas noch nie Dagewesenes. Als jedoch einige Monate später bekannt wird, dass Rob Pilatus und Fab Morvan nicht selbst singen, verwandelt sich das Popmärchen rasch in einen der größten Skandale der Musikgeschichte. Und für die beiden Bandmitglieder in einen Alptraum.
Die Dokumentation erzählt die Geschichte von Milli Vanilli aus der Innensicht und lässt alle maßgeblich Beteiligten zu Wort kommen: Wie sich Robert Pilatus und Fabrice Morvan im München der 80er Jahre anfreunden und als “Empire Bizarre” erste musikalische Schritte wagen, wie der Produzent Frank Farian (Boney M.) sie entdeckt und gemeinsam mit ihnen das perfekte, international vermarktbare Pop‐Produkt schafft und wie die beiden sich schließlich in einer Mischung aus Selbstüberschätzung und Ringen um die eigene Würde mit ihrem Schöpfer überwerfen und es zum Konflikt von beinahe mythologischer Tragweite kommt: Denn Rob Pilatus und Fab Morvan rebellieren, weil sie mit ihrer zugedachten Rolle als Playback‐Darsteller nicht länger zufrieden sind und selbst die Stimmen übernehmen wollen.
Ohne Schuldzuweisungen vorzunehmen, macht die Dokumentation deutlich und erlebbar, wie Fab Morvan und Rob Pilatus sich immer weiter verstricken, nach und nach die Bodenhaftung verlieren und sich schließlich am stets größer werdenden Ruhm die Flügel verbrennen. Gerade Robert Pilatus überidentifiziert sich im Angesicht des phänomenalen Erfolgs mit der Rolle des Superstars. So verkündet er 1990: “Musically, we are more talented than any Bob Dylan, Paul McCartney or Mick Jagger. I’m the new modern rock & roll. I’m the new Elvis.” Nach Auffliegen des Skandals fehlen dem extrovertierten, charismatischen Pilatus im Gegensatz zum besonneneren Morvan die Reserven, sich zu fangen. Er wird zu einem Verlorenen. Und zumindest im Tod ein richtiger Rockstar: zugedröhnt und einsam in einem Hotelzimmer.
“Milli Vanilli: From Fame to Shame” wartet mit zahlreichen unveröffentlichten Archivaufnahmen auf. Auch konnte der Film exklusiv das letzte Interview zutage fördern, das Robert Pilatus fünf Wochen vor seinem Tod gegeben hat und in dem er erstaunlich klar und selbstkritisch seine Karriere und sein Leben reflektiert. Neben Frank Farian und Fabrice Morvan kommen unter anderem Roberts Stiefschwester Carmen Pilatus, die “richtige” Stimme Brad Howell, der Münchener Produzent Werner Schüler, der Musiker‐Fotograf Manfred Esser und Milli Segieth zu Wort, die als künstlerische Managerin Robert und Fabrice während ihrer gesamten Karriere begleitete und der schließlich 1998 der traurige Part zufiel, den toten Robert Pilatus zu finden.